Legasthenieexpertin Gemballa: "Ihr Kind ist mehr als ein schwarzer Punkt!"



Dr. Kai-Oliver Schocke, Vorsitzender des Fördervereins der Hessenwaldschule, und Legasthenie-Therapeutin Kerstin Gemballa. Foto Lörzer

Weiterstadt (Lör) „Sie müssen Ihr Kind lieben und annehmen. Legen Sie Wert auf schöne, gemeinsame Aktionen und haben Sie Geduld mit sich selbst und mit Ihrem Kind.“ Kerstin Gemballa, Germanistin und Legasthenietherapeutin, stellte dem interessierten Publikum in der Hessenwaldschule nicht nur die neuesten Forschungsergebnisse vor, sie gab den Eltern und Lehrern auch zahlreiche Hilfen an die Hand und erklärte das Legasthenie-Phänomen, das betroffenen Kindern und ihren Eltern den Spaß an der Schule und am Schreiben, am Lesen, am Lernen und häufig sogar viel Freude am Leben nimmt. Jeder der Zuhörer im Saal stimmte Professor Dr. Kai-Oliver Schocke, Vorsitzender des veranstaltenden Fördervereins, am Ende des erkenntnisreichen Vortrags zu: „Die Synapsen haben geglüht.“

Als Legasthenie bezeichnet Kerstin Gemballa einen Begabungsmangel für das Erlernen des Lesens und Rechtschreibens. Er sei nach Prof. Andreas Warnke Ausdruck von Besonderheiten der Hirnfunktion – wie ein fehlender Torinstinkt eines Fußballspielers. Das Umfeld könne ausgleichend oder verstärkend wirken.
Die Expertin fordert einen selbstverständlicheren Umgang mit der Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) wie er in Amerika längst üblich sei und kommt auf die Ursachen für die markante Verschlechterung der Rechtschreibleistung in den vergangenen 40 Jahren zu sprechen.
Es wird heute zu wenig geschrieben“, erklärt die Referentin, und es werden kaum Gedichte auswendig gelernt. Die Kindheit verläuft heute zudem ganz anders als 1970. „Für mich gab es keinen Computer, Fernsehen durfte ich nur einmal die Woche und ich war viel draußen, um mit Freunden zu spielen“, verrät Kerstin Gemballa. Für diese Spiele benötige man viele sprachliche Fähigkeiten, um Freunde beispielsweise zu überzeugen. „Das ist für mich der wichtigste Grund“, so die Legasthenie-Therapeutin. Aber auch die Vermittlung der Rechtschreibung, wie sie heute an Grundschulen üblich sei, hält sie für eine der Ursachen.
Vergleiche von Testergebnissen von 1970 und 2005 zeigen eindeutig, dass die Rechtschreibkompetenz geringer geworden ist. 60 Prozent der heutigen Schüler wären 1970 als „relativ rechtschreibschwach“ eingestuft worden. Die Verschlechterung der sprachlichen Fähigkeiten sei ein „großes Problem in unseren Schulen“, so Gemballa.
Bei Kindern mit Legasthenie kommt neben diesen schlechteren Rahmenbedingungen dazu, dass ihnen die Begabung fehlt, das Lesen und Rechtschreiben mühelos zu erlernen.
Kinder lernen die richtige Rechtschreibung über die automatische und unbewusste Bildung von inneren Regeln sowie das Speichern von Wörtern und Wortteilen. Dabei können die unterschiedlichsten Schwierigkeiten auftreten. Allen voran sind die Kapazität des Arbeitsspeichers, die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache im Gehirn sowie die Verarbeitungsgeschwindigkeit zu nennen. Durch Schwierigkeiten in einem oder mehreren dieser Bereiche wird die Speicherung von Wörtern und Wortteilen oder die Bildung innerer Regeln erschwert.
Forscher haben vor kurzem ein Gen gefunden, das für die Sprachverarbeitung verantwortlich ist: SLC2A3. Ist es beeinträchtigt, reagieren Nervenzellen schwächer, was LRS-Probleme zur Folge haben kann.
Oft prägen sich Kinder Wortbilder auch falsch ein, weil aufgrund der Fehlermenge nicht bemerkt wird, dass ein Wort wie beispielsweise „kam“ über Jahre mit „h“ geschrieben wird. Dadurch bilden sich im Gehirn feste Spuren, die schwer wieder zu löschen sind.
Kerstin Gemballa erklärte das Phänomen nicht nur, sie gab den Eltern betroffener Kinder auch Tipps an die Hand. Am wichtigsten sei es, Entscheidungen im Sinne des Kindes zu treffen, denn die Ratgeber – Lehrer und Therapeuten – müssten später nicht mit den Folgen leben. Um mit LRS angemessen umgehen zu können, empfahl die Therapeutin den Eltern zunächst eine Diagnose, sich Hilfe und Rat von außen zu holen und sich gut zu informieren. Sie warnte davor, die Eltern-Kind-Beziehung durch häusliche Förderung zu belasten, und sprach sich dafür aus, einen täglichen und begrenzten Zeitrahmen einzuhalten und für eine positive Lernsituation zu sorgen.
Schaffen Sie klare Strukturen“, so Gemballa. Ruhe sei wichtig, die gleiche Zeit, der gleiche Ort, Lob und Ermutigung. Positives Verhalten stärken, negatives ignorieren und „natürliche Konsequenzen“ einführen – das sind weitere Empfehlungen der LRS-Expertin.
Vor allem aber legte sie besonders den Eltern ans Herz, sich den Blick auf das Kind nicht durch die schulischen Probleme verstellen zu lassen. Mit Hilfe eines schwarzen Punktes in einem weißen Feld verdeutlichte sie das Problem. Alle starren auf den Punkt, keiner nimmt die Umgebung mehr wahr. Kerstin Gemballa zu den Eltern: „Ihr Kind ist mehr als ein schwarzer Punkt!“
Dieser Vortrag war der zweite zum Thema Legasthenie. Schulleiterin Ute Simon-Nadler freute sich über die große und positive Resonanz. Sie sieht sich in ihrer Arbeit bestätigt. Die Direktorin: "Wir bauen das Vortragsangebot an der Hessenwaldschule aus und bieten künftig  mehr Veranstaltungen zu schulisch brisanten Theman an."




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